SINATRA: No One Cares

No One Cares

Der Titel des Albums sowie die Cover-Abbildung machen sogleich deutlich, was den Hörer auf dieser Platte erwartet und tatsächlich ist No One Cares das vielleicht am schwersten verdauliche Album in Sinatras Capitol-Phase - dem Hörer, das lassen Sie mich gleich vorausschicken, meine sehr verehrten Damen und Herren, wird hier einiges an Konzentration und Geduld abgenötigt. Stimmung und auch musikalische Konzeption erinnern sehr stark an das vielbejubelte Album Where Are You, welches ebenfalls von Gordon Jenkins arrangiert worden war.

Die Stimmung der Platte ist einmal mehr dunkel, schwer und dramatisch, die Texte der Songs spiegeln einmal mehr Resignation, Verlust und Verzweiflung wieder. Die für diese Platte ausge- wählten Songs sind eher wenig eingängig, wenngleich künstlerisch äußerst anspruchsvoll, fast schon könnte man sie Schubert-Lieder der Populärmusik nennen.

Um dieses Album angemessen würdigen zu können, sollte der Hörer selbst in annähernd ähnlich elegischer Stimmung sein, ganz sicher aber ist No One Cares kein Album für einen sonnigen Frühlingstag, es eignet sich schon eher für einen nebeligen, verregneten Oktobernachmittag.

Für die Arrangements war also wie schon im Falle von Where Are You Gordon Jenkins zuständig und er schrieb erneut sehr zurückhaltende Arrangements, die dem Sänger stets untergeordnet sind und niemals die Aufmerksamkeit von Sinatras Vortrag ablenken.

Ich zumindest empfinde die Arrangements von Jenkins eigentlich nie als zu dick aufgetragen - eine Meinung, die man immer wieder mancherorts liest, der ich mich aber ganz und gar nicht anschließen möchte. Jenkins Umgang mit Streichern ist phänomenal, sein Beitrag zu den diversen Sinatra-Alben, welche unter seiner Leitung entstanden, kann gar nicht hoch genug geschätzt werden.

Die Höhepunkte dieses - wie ich eingangs schon versucht habe, darzulegen - nicht ganz einfach zu konsumierenden Albums sind Stormy Weather, Where Do You Go, I Can´t Get Started sowie The One I Love Belongs To Somebody Else. Freilich stehen aber auch die anderen Songs den eben genannten kaum nach. Der Barde setzte auch bei dieser Platte wieder in einigen Fällen auf die Zugkraft bewährter Lieder, die er schon zuvor in seiner Karriere aufgenommen hatte, etwa Why Try To Change Me Now und I´ll Never Smile Again. Sinatra erbringt in gesanglicher und interpretatorischer Hinsicht eine seiner besten Leistungen der 50er-Jahre, er ist hier ganz Künstler und es stimmt ein wenig traurig, wenn man daran denkt, wie oft er dieses Künstlertum später dann in der Reprise-Phase seiner Karriere zugunsten oftmals oberflächlicher Unterhaltung hintangestellt hat.

Von diesem Standpunkt aus betrachtet, hat Sinatra während der Reprise-Phase von 1961-1988 eigentlich im engsten Sinne nur bei dem Album September Of My Years auf einem ähnlich hohen Niveau agiert. Bezeichnenderweise wurde auch dieses Album von Gordon Jenkins arrangiert. Üblicherweise wird hauptsächlich Nelson Riddle als der kongenialste Arrangeur Sinatras angesehen - es gibt auch zuhauf Aufnahmen, die diese Ansicht zu stützen vermögen. Dennoch, wertes Publikum, wenn es um dunkle und düstere Arrangements ging, konnte auch Riddle seinem Kollegen Jenkins nicht das Wasser reichen. Gerade bei diesen unendlich traurig- stimmungsvollen Alben, welche zusammen mit Jenkins entstanden, lief Sinatra regelmäßig zu ungeahnter Höchstform auf und es ist vermutlich gar nicht allzu vermessen, hierorts die These aufzustellen, dass Sinatras künstlerisch befriedigendste Aufnahmen der 50er-Jahre im Verbund mit Gordon Jenkins entstanden sind.

No One Cares wurde im März des Jahres 1959 aufgenommen, der Song The One I Love Belongs To Somebody Else fand ursprünglich keinen Platz auf dem herrlichen Original-Langspiel-Album und erscheint erstmals auf der CD-Version. Zusätzlich gibt es drei von Nelson Riddle arrangierte Bonus-Tracks, die von der Stimmung her auch in der Tat gut zu dem ursprünglichen Programm passen: This Was My Love, eine echte Perle und von Sinatra um Welten besser vorgetragen als die spätere Reprise-Fassung des Songs, welche unter dem aktualisierten Titel This Is My Love auf dem unglaublich inferioren 1967er Album The World We Knew erschien. Die hier zu hörende Version wurde 1959 am selben Tag wie When No One Cares und I´ll Never Smile Again aufge- nommen. I Could Have Told You wurde am 9. Dezember 1953 aufgenommen, während der
Song You Forgot All The Words (While I Still Remember The Tune) vom 17. Oktober 1955 datiert.

Fazit: Wer sich die Zeit für ein konzentriertes Hör-Erlebnis nimmt, erlebt wieder einmal eine
der Sternstunden in Sinatras Capitol-Phase, ein zeitlos schönes Balladenwerk und eine große Empfehlung für alle, die an dem Künstler Sinatra größeres Interesse haben als an dem Unter- halter Sinatra. Wieder einmal beweist der Barde, welch einzigartige Klasse in seinem Gesang
der 50er-Jahre steckte, wieviel Ausdruckskraft und Feeling ihm - seinem Gesang nämlich - innewohnte. Dieses superbe Niveau gelang es Sinatra noch für einige Jahre annähernd zu halten, bis sich dann ab 1965 die Qualitätskurve zu neigen begann, bevor sie Mitte der 70er-Jahre ins Bodenlose stürzte. Aber das ist eine andere und leider nur allzu traurige Geschichte...

Ungeachtet des hohen künstlerischen Anspruchs des Albums konnten Sinatra und Capitol auch mit dieser Platte einen großen Erfolg beim Publikum landen: In den amerikanischen Billboard- Charts hielt sich das Album ganze dreiundsiebenzig Wochen lang und erreichte als höchste Platzierung gar Rang Zwo. Was waren das noch für Zeiten, werden Sie jetzt sagen, wo Kunst
und Kommerz sich gegenseitig nicht zwangsläufig ausschlossen und auch ein etwas schwerer verdauliches Werk vom Massenpublikum angenommen wurde! Oh, wie sehr haben sich doch seither die Zeiten gewandelt, werden Sie jetzt vermutlich klagen - je nun, ich kann diese Ihre Ansicht gut nachvollziehen, dessen möchte ich Sie hier am Ende meiner Besprechung des Albums No One Cares mit Nachdruck versichern.

Bewertung: sehr gut